Startseite - Home 

EIN MORGENROTER ZAUBER
Zu Casanovas Beginn seiner Existenz als denkendes Wesen
Von Pablo Günther

.
.
.
 Religionen der Morgenröte   -    Indra   -  Rig-Veda   -   Eros/Amor/Cupido/Jesuskind/Putto   -   Märchen
.
        Casanovas erste acht Lebensjahre verliefen trostlos; das Kind war kränklich und geistig zurückgeblieben. "Mein Vater und meine Mutter sprachen nie mit mir" (1).
        Sein Erinnerungsvermögen setzte dann mit einem heftigen, nicht enden wollenden Nasenbluten ein, das zu stillen seine Großmutter Marzia kein anderes Mittel wußte, als ihn einer "Hexe" aus Murano anzuvertrauen. Ihre Behandlungsmethode führte prompt zum Erfolg. "Mein Gedächtnis entwickelte sich nun ständig. Binnen weniger als einem Monat lernte ich lesen" (2).
        Das Wesentliche, das die Hexe mit dem kleinen Casanova anstellte, mutet rätselhaft an: sie sperrte ihn nämlich in eine dunkle Truhe ein. Das zweite Ereignis kommt uns dagegen märchenhaft-vertraut vor: die Erscheinung einer guten Fee in der kommenden Nacht. Wir sind geneigt, dem ganzen Hokuspokus keine besondere Bedeutung beizumessen - oder ist in ihm doch ein tieferer Sinn verborgen? Zumal Casanova die Episode durchaus für mitteilenswert hielt; ein Umstand, der bei ihm stets eine nähere Untersuchung lohnend erscheinen läßt, wie wir aus Erfahrung wissen.
        Er selbst räsoniert im Anschluß an seinen Bericht (3) ausführlich, wenn auch nur ganz allgemein, über die "beiden Narreteien". Diese könnten nämlich sehr wohl zu seiner Heilung beigetragen haben.
"Die Heilmittel gegen besonders schwere Krankheiten findet man nicht immer in Apotheken. Täglich beweist uns irgendein Phänomen unsere Unwissenheit".
        Kaum ein Gelehrter sei völlig frei von Aberglauben. Es gebe zwar keine "wirklichen" Zauberer, aber die eigene Einbildungskraft und der Glaube an ihre Fähigkeiten führten oft zu Ergebnissen, die dann zu Unrecht "Wunder" genannt würden.

        Die Wirkungsweise der Therapie ist ihm offenbar nicht klar. Diese treffend zu erklären war erst Hartmut Scheible vorbehalten (4): "Was die Hexe an Casanova vollzieht, ist nichts anderes als eine Wiederholung des Geburtsvorgangs in symbolischer Form, wodurch alles das nachgeholt und wieder gutgemacht werden soll, was bisher an dem Kind versäumt wurde: die liebkosende Pflege, die liebevolle Zuwendung der Mutter. Auch das scheinbare Wunder, daß die geistigen Kräfte des Knaben plötzlich aktiviert sind, braucht der Vernunft nicht unzugänglich zu bleiben. Es ist die Kraft des mit der Androhung des Todes sanktionierten Erinnerungsverbotes [an die Fee], die sich dem Gedächtnis unauslöschlich einprägt."

        Nun scheint mir, daß es eine Möglichkeit gibt, die Art und Weise, wie der Geburtsvorgang wiederholt wurde, im Einzelnen zu interpretieren. Die Prozeduren der Hexe erinnern nämlich an Vorgänge, die in uralten Gottesvorstellungen wurzeln. Diese wurden von Nietzschedie "Religionen der Morgenröte" bezeichnet. Sie waren bis vor drei Jahrtausenden weltumspannendes Allgemeingut, als sie dann von den neueren orientalen Religionen (beginnend mit Zarathustra, sodann Juden- und Christentum, Islam) buchstäblich "verteufelt" und schließlich verdrängt wurden.
        Morgenrote Religionen sind Schöpfungsreligionen; sie handeln primär vom Anfang der Welt, nicht von ihrem Ende. Der Blick des Menschen richtet sich also in die Vergangenheit (im Gegensatz zu den Folgereligionen, die auf die Zukunft, speziell sogar auf die Zeit nach dem Tode, ausgerichtet sind). Die Botschaft lautet: "Gott sei Dank, es ist gut gegangen; die Schöpfung ist gelungen".
        Damit ist die erfolgreiche Beendigung der ersten achtzehn Lebensmonate gemeint, wenn das Kind sich nämlich mehr und mehr von der Mutter (und ihrer Fürsorge) löst und sich dem Vater (und der äußeren Welt) zuwendet, sprechen und laufen lernt.
        Wer diesen Schritt in die Wirklichkeit der Welt nicht schafft, wird krank. Um dem vorzubeugen, oder um zu heilen, erinnert die Religion immer wieder an diese dramatische Zeit; sie ist daher ihrem Wesen nach Therapie. Das gleiche gilt für die meisten Mythen bzw. Märchen: als Erlösungs- und Heilgeschichten lehren sie die Menschen alle Schwierigkeiten zu meistern, indem sie Kraft- und Mutproben mit "Riesen" oder "Drachen" bestehen müssen, um letztendlich glücklich, das heißt erwachsen zu werden, denn am Ende dieser Märchen steht immer die Hochzeitsfeier, die Gründung einer Familie.

        Es entstand in vorgeschichtlicher Zeit folgender Mythos: Das Kleinkind wird als "kleiner Held der Morgenröte" verehrt (und im Rig-Veda (6)Indra genannt, eine Gottheit, die in Indien bis heute noch nachgewiessen werden kann). Es lebt gleichsam unter der Erdoberfläche, in einer Höhle. Hier erlebt es seine Mutter in zweifacher Gestalt: als "böse Hexe" und "gute Fee". Es ist umgeben von Tieren, lieben und bösen, wie z.B. Drachen, mit denen es siegreich kämpft, denn es ist allmächtig. Es kann fliegen und Berge durch die Luft tragen - es kann einfach alles. Nur körperlich ist es unvollkommen: es hinkt ("gehbehindert" wie eben Einjährige, hat es Schwierigkeiten beim Laufenlernen). Schließlich, ungefähr eineinhalb Jahre alt geworden, schickt es sich an, seine Höhle zu verlassen. An der Spitze eines Umzugs mit seinen Tieren, angelockt durch den die Sonne verkörpernden Strahlenkranz vom Haupte der guten Fee (seiner Mutter), gelangt es wie durch einen Maulwurfshügel auf eine bunte Wiese voller Blumen, die von der aufgehenden Sonne bestrahlt wird.
        Mit dem gelungenen Eintritt in die Welt der Erwachsenen endet der Mythos. Es gilt nun, sich von der Phantasiewelt der Höhle zu verabschieden, und sich in der Welt, wie sie "wirklich" ist, zurecht zu finden. Grundlage dafür ist vor allem der Spracherwerb. Des weiteren kommt das Kind mit Moral und Konvention in Verbindung, und muß lernen, sich innerhalb seiner Familie und der Gesellschaft zu behaupten und anerkannt zu werden.

        Vorstellungen über morgenrote Religionen müssen im 18. Jahrhundert noch vorhanden gewesen sein. Man denke nur an die damalige Allgegenwart in Wort und Bild der griechisch-römischen Göttergestalten. Viele von diesen tragen morgenrote Züge, wie insbesondere Eros/Amor/Cupido, der unmittelbar aus dem "kleinen Helden" hervorgegangen sein muß (7). In Gestalt von Putti war er von der Antike an über die Renaissance bis zum Rokoko jedermann ständig vor Augen. Auch weist die auffallend große Verehrung des Jesuskindes in diese Richtung (überhaupt ist wohl der christliche Glaube im allgemeinen und der römisch-katholische im besonderen "morgenroter" als es auf den ersten Blick zu sein scheint).

        Kommen wir nun zu Casanovas Bericht. Er liest sich beinahe wie ein Märchen der Brüder Grimm (die rot hervorgehobenen Begriffe sind alle wörtlich von Casanova übernommen und decken sich mit typisch morgenroten bzw. märchenhaften Motiven).
        Zur Heilung des Nasenblutens bringt ihn seine gute Großmutter auf die Insel (die bunte Wiese; Hügel) Murano. Sie betreten eine elende Hütte (bei Grimm das Haus mitten im großen Wald: die Höhle), in der eine alte Frau bzw. Hexe mit einer schwarzen Katze auf dem Arm sitzt, umgeben von weiteren dieser Tiere. Nach einem langen Gespräch und der Zahlung eines Silberdukatens führt die Hexe den blutenden Jungen zu einer Truhe (wiederum Höhle), öffnet sie, setzt ihn hinein, sagt, er solle keine Angst haben und macht sie wieder zu. Draußen erhebt sich ein großer Lärm und man schlägt auf die Truhe ein ("Höllenlärm" der Drachenkämpfe). Dem weiter blutenden Knaben ist das gleichgültig. Die Befreiung aus der "Höhle" gestaltet sich auf das angenehmste: die Alte empfängt ihn mit tausend Zärtlichkeiten, zieht ihn aus, hüllt ihn in wohlriechende Tücher, gibt ihm Zuckerwerk zu essen und reibt ihn am Kopf mit einer köstlich duftenden Salbe ein (wie einem Einjährigen). Schließlich zieht sie ihn wieder an und verheißt ihm die baldige Erlösung von seinem Leiden. Allerdings dürfe er niemandem ihre Geheimnisse verraten; andernfalls verliere er all sein Blut und müsse sterben. Auch über die liebliche Dame, die ihm in der kommenden Nacht erscheinen werde (Fortsetzung des Höhlengeschehens) und von der sein künftiges Glück abhinge, müsse er strengstes Stillschweigen bewahren. - Wieder zu Hause in Venedig, bringt ihn die Großmutter ins Bett und er schläft sofort ein. Dann wacht er auf und sieht eine wunderschöne Frau in prächtigen Kleidern vom Kamin herabsteigen. Aus ihrer Krone aus Edelsteinen sprühen Funken. Mit holder Mine tritt sie majestätisch näher und setzt sich auf sein Bett. Sie läßt den Inhalt kleiner Kästchen auf seinen Kopf regnen (vielleicht Rosenblätter, wie Eos, Maria oder die hl. Teresa vom Kinde) und murmelt dazu Sprüche. Sie hält eine lange, ihm unverständliche Rede (vorsprachliche Phase), küßt ihn und verschwindet, nachdem sie wieder auf den Kamin hinaufgestiegen ist. Er schläft wieder ein.

        Nach dem langen Gespräch mit Casanovas Großmutter hat die weise Hexe nämlich intuitiv erkannt, daß es für das von Mutter und Vater verlassene Kind nur ein Heilmittel geben kann: Er muß zurück in die frühkindliche Höhle, und - im Schnelldurchgang - das einst Versäumte noch einmal durchleben. Die angewandten Zeremonien sollen das Höhlendrama von damals rituell wiederholen und im Unterbewußtsein verankern. Daraufhin werde er, "wenn alles gutgeht", die Höhle verlassen und in das Licht des bewußten Lebens eintreten.
        Dabei ist bemerkenswert, daß die Hexe allein auf die Macht der Zeremonie und ihres Glaubens baut, indem sie um ihr eigenes Wirken ein großes Geheimnis macht, das der kleine Patient niemandem verraten darf. Er wird eben nicht aufgefordert, jetzt gut aufzupassen, sondern im Gegenteil, er soll weiter keine Notiz nehmen und alles vergessen. Denn nicht eigentlich die Hexe ist zu heilen imstande, sondern ein morgenrot-göttliches Mysterium, das nur unbewußt wirken kann. Es ist so heilig, daß niemand darüber sprechen darf.
        Casanova hätte mit seiner Autobiographie kaum dramatischer beginnen können, zumal die großen Leitmotive seines Lebens, nämlich Sprache, Frauen und Magie, nicht nur schon anklingen, sondern hier geradezu ihre Ausgangspunkte zu haben scheinen. Wenn ihm auch die Geschichte mit der Hexe, der Truhe und der Fee als stilistisches Mittel, den "Beginn meiner Existenz als denkendes Wesen" (8) auf magisch-göttliche Weise zu verklären, nicht unwillkommen gewesen sein mag, so müssen wir doch erneut die Detailfreude seines Erzählstils bewundern. Indem er von einem uralten, praktisch verschwundenen Mythos, der für die religionsphilosophische Forschung aber von großer Bedeutung ist, unwillkürlich Kunde gibt, werden seine Memoiren wieder einmal ihrem Ruf als universellem und wahrhaftigem Zeugnis seiner Zeit gerecht.



Anmerkungen:

(1) CASANOVA, G., Histoire de ma vie. Wiesbaden, Paris, Brockhaus & Plon (= B. & P.), 1960-2, vol. 1, ch. I, p. 6. (retour)
(2) Ibidem, vol. 1, ch. I, p. 6. (retour)
(3) Ibidem, vol. 1, ch. I, p. 6. (retour)
(4) SCHEIBLE, Hartmut, Casanova und Henriette. Das Wort, die Sinne und das Gedächtnis, in: Italienisch, Heft 39, Mai 1998, Frankfurt a.M. (retour)
(6) GELDNER, K.F., Der Rig-Veda, in HARVARD, Oriental Series, vol. 33 ff., Cambridge, Harvard University Press, 1978. (retour)
(7) "Nach Hesiods Theogonie existierte Eros seit Beginn der Zeit, da er zusammen mit Ge (Erde) und Tartaros aus dem Chaos oder zur gleichen Zeit wie dieses geboren wurde" (TRIPP, Edward, Lexikon der antiken Mythologie. Frankfurt a.M., 1991, p. 183). (retour)
(8) B. & P., vol. 1, ch. I, p. 4. (retour)


Copyright by Hartmut Pablo Günther, Hergensweiler. 1999 - 20019.

hoch 
























Impressum